Mich interessiert der Augenblick oder das Intervall, in dem ein ausgelenktes Pendel nicht mehr in die eine, aber noch nicht in die andere Richtung schwingt, denn es kann sich ja nicht zugleich in zwei verschiedene Richtungen bewegen.
Die Physiker sprechen hier vom Zeitpunkt der Geschwindigkeit Null des Pendels am Umkehrpunkt. Was für mich eine völlig unbefriedigende Aussage ist. Wie kurz, bitte, ist dieser "Zeitpunkt"? An infinitesimal fraction of a second?
Die Physiker, die ich befragt habe wiesen mich darauf hin, dass eine Messung dieses Zeitpunktes wegen der Heisenberg'schen Unbestimmtheitsrelation nicht möglich sei.
Gibt es irgendeine Möglichkeit, sich dennoch dieser Situation zu nähern und somit zu der Antwort zu gelangen, wie kurz die Dauer ist, in der sich das Pendel am sog. Umkehrpunkt nicht bewegt, es also wirklich still steht?
Hier meine kurze Antwort: Die Dauer, in der das Pendel beim Umkehrpunkt stillsteht, ist Null Sekunden!
Das erste Newton'sche Gesetzt ist das Trägheitsprinzip [1]:
Ein Körper verharrt im Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen Translation, sofern er nicht durch einwirkende Kräfte zur Änderung seines Zustands gezwungen wird.
Auf das Pendel am Umkehrpunkt angewendet bedeutet dies, dass das Pendel dort nur kurz stillstehen könnte, wenn kurzzeitig keine Kräfte wirken würden, die es aus dem momentanen Stillstand zwingen. Am Umkehrpunkt ist die Kraft, die das Pendel in Richtung der mittleren Stellung zieht, maximal. Sie verschwindet nicht für kurze Zeit am Umkehrpunkt, somit bleibt das Pendel an diesem Punkt auch niemals stehen. Es wechselt lediglich die Geschwinigkeit in die andere Richtung.
Der Punkt, an dem diese Richtungsänderung stattfindet, ist zudem abhängig vom gewählten Bezugssystem:
Dass das Pendel am Umkehrpunkt kurz stillsteht, ist eine Illusion. Betrachten wir die Kurve, die das Pendel im Verlaufe der Zeit zeichnet, von relativ zum Pendel gleichförmig bewegten Beobachtern aus:
Steht der Beobachter im Vergleich zum Pendel still, zeichnet das Pendel in seinem System eine sog. Sinus-Kurve (Bild rechts, Kurve 1). Die Umkehrpunkte des Pendels erhält man im jeweiligen Bezugssystem, indem man die senkrechte Tangente an die in diesem System gezeichnete Kurve legt.
Wenn sich der Beobachter gleichförmig am Pendel vorbei bewegt, zeichnet es in seinem System eine verzerrte Sinus-Kurve (Bild links und Bild rechts, Kurven 2 und 3). Die Umkehrpunkte werden im System des Beobachters jeweils bestimmt, indem die senkrechte Tangente an die verzerrte Kurve gelegt wird. In den bewegten Systemen ändert das Pendel die Richtung somit an den rot markierten Punkten.
Die grün markierten Punkte sind die Umkehrpunkte im System des Pendels, bzw. in einem dazu stationären System. Wie man aus den Grafiken ersieht, fallen die Umkehrpunkte der verschiedenen Systeme zeitlich nicht zusammen! Wenn sich das System schnell genug am Pendel vorbei bewegt, gibt es aus seiner Sicht gar keine Umkehrpunkte mehr, wie das die Kurve 3 zeigt!
Würde das Pendel an seinem Umkehrpunkt kurz stehen bleiben, müsste die Pendel-Kurve in einem anderen System zu diesem Zeitpunkt eine kurze Gerade sein (konstante Geschwindigkeit).
Das Pendel ist und bleibt immer dasselbe für alle Systeme. Wenn das Pendel in einem System zu einem bestimmten Zeitpunkt die Zeitdauer Δt stehen bleibt, so muss die Kurve in den anderen Systemen zu diesem Zeitpunkt für die Zeitdauer Δt eine Gerade mit der momentanen Steigung der Linie an diesem Punkt sein.
Da offensichtlich in jedem System der Umkehrpunkt zu einem anderen Zeitpunkt stattfindet oder gar kein Umkehrpunkt existiert, kann es nicht sein, dass an irgendeinem der Umkehrpunkte eines belibigen Systems das Pendel kurz stehen bleibt, denn in jedem anderen System müsste das Pendel zu diesem Zeitpunkt für die Dauer Δt eine konstante Geschwindigkeit haben. Damit könnte man aber in keinem System eine kontinuierliche Kurve ohne Ecken erhalten.
Man könnte nun argumentieren, dass man keine Ecken in den Kurven sehen würde, wenn die Zeitdauer Δt sehr klein wäre. Dieses Argument funktioniert jedoch nicht.
Nehmen wir an, die Kurve im Ruhesystem sei aus lauter kleinen geraden Segmenten zusammengesetzt. Die Segmente an den Umkehrpunkten müssten vertikal sein, damit das Pendel die entsprechende Zeit lang stillsteht. Die Eckpunkte der Segmente teilen die Zeit in kurze Intervalle ein. Diese Intervallteilung gilt für alle Systeme. Wenn ein Eckpunkt im Ruhesystem bei einem Zeitpunkt tn liegt, liegt dieser Eckpunkt in allen bewegten Systemen auch beim Zeitpunkt tn.
Wir haben aber nun gesehen, dass in bewegten Systemen das Pendel zu anderen Zeitpunkten umkehrt, als im Ruhesystem. Damit auch in den bewegten Systemen das Pendel kurze Zeit stillsteht, muss auch in diesen Systemen ein vertikales Segment am jeweiligen Umkehrpunkt des Systems sein. Ohne vertikales Segment kein Stillstand am Umkehrpunkt. Dies schränkt aber die möglichen Geschwindigkeiten ein, bei denen die Eckpunkte gerade so liegen, dass die Segmente bei den Umkehrpunkten genau vertikal sind.
Wenn man beliebige Relativgeschwindigkeiten zulässt, gibt es unendlich viele Systeme, in denen es keine vertikalen Segmente an den Umkehrpunkten gibt. Das würde also bedeuten, dass nur in ganz bestimmten Systemen das Pendel am Umkehrpunkt kurz stillstehen würde. Dies macht physikalisch und logisch keinen Sinn.
Folglich kann das Pendel in keinem System kurz still stehen!
Nehmen wir mal an, dass ein Pendel tatsächlich am Umkehrpunkt kurz stehen bleiben würde. Wie soll man diesen Punkte nun genau bestimmen?
Auf Atom-Level kann man nicht sagen, wo ein Atom genau ist. Erstens schwingen die Atome durch die Wärmebewegung, zweitens kann nach der Heisenberg'schen Unschärferelation nicht gleichzeitig die Geschwindigkeit und die Position genau gemessen werden. Je genauer man das eine misst, umso ungenauer wird das andere [2].
Können wir wenigstens berechnen, welche Zeit Δt ein Pendel am Umkehrpunkt benötigt, um sich nur eine extrem kurze Strecke Δs, zum Beispiel einen Atomdurchmesser weit zu bewegen?
Diese Frage kann ich mit JA beantworten. Dafür leite ich nachfolgend eine Formel her.
Betrachten wir das Bild rechts, das die Pendel-Kurve in der Nähe eines Umkehrpunktes zeigt. Wenn wir einen kleinen Bereich Δs vom Scheitelpunkt der Kurve her definieren, können wir an der Kurve die Zeit Δt ablesen, in welcher sich die Kurve innerhalb des Bereiches Δs befindet.
Die Kurve erhalten wir aus der Bewegungsgleichung des Pendels (siehe Das Fadenpendel):
(1) |
| ||||||||||||||||||
mit | |||||||||||||||||||
wobei' |
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Wenn ich den Phasenwinkel φ0 so wähle, dass zur Zeit t = 0 das Pendel den maximalen Auslenkwinkel φmax hat, also φ0 = π/2, so vereinfacht sich die Gleichung (1) zu:
(2) |
Damit kann ich berechnen, welche Strecke Δs das Pendel in der Zeit Δt vom Umkehrpunkt aus gemessen ausschlägt:
(3) |
Diese Formel kann ich nun nach Δt auflösen:
(5) |
| |||||||||||||||
wobei' |
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Diese Formel birgt ein numerisches Problem: Wenn Δs im Vergleich zu
Um das Rechenproblem für sehr kleine Δs zu lösen, brauchen wir eine Funktion, welche den arccos von 1 − x für sehr kleine x liefert. Diese Funktion nenne ich mal acosx:
(6) |
Eine solche Funktion lässt sich über eine sog. Taylor-Reihe finden. Das Prinzip einer Taylor-Reihe ist, eine beliebige Funktion durch ein Polynom anzunähern. Dieses Polynom nähert die Funktion nur in einem bestimmten Bereich in einer bestimmten Genauigkeit an. Jede stetige Funktion lässt sich durch ein Taylor-Polynom annähern.
Ein Taylor-Polynom besteht im Prinzip aus unendlich vielen Termen. Je mehr Terme man verwendet, desto besser ist die Näherung des Polynoms. In der Praxis benötigt man in der Regel nur die ersten zwei Terme des Polynoms. Alle weiteren Terme werden in der Nähe des Entwicklungspunktes verschwindend klein und können vernachlässtigt werden.
Der arccos(x) kann durch folgendes Taylor-Polynom angenähert werden, das an der Stelle x = 1 entwickelt wird [3]:
(7) |
Der arccos( 1 − x ) an der Stelle x = 0 lautet dann (x ersetzen durch (1 − x)):
(8) |
Für sehr kleine x genügen die ersten zwei Terme in der eckigen Klammer, alle weiteren Terme sind vernachlässigbar. Ein Taylor-Polynom aus zwei Termen nennt man P2. Wir können also folgende Näherung machen:
(9) |
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P2 für |
Das Bild oben zeigt blau den arccos und grün die Näherung acosx des Taylor-Polynoms P2. Wie man sieht, sind die Kurven für kleine x praktisch identisch.
Wenn x kleiner als O(ε) ist, liefert die obige Formel den arccos(1−x) mit der Genauigkeit ε. Wenn x grösser als O(ε) ist, ist die Abweichung obiger Formel grösser als ε und man sollte dann die arccos-Funktion für die Berechnung verwenden.
(10) |
Wenn wir zum Beispiel das Resultat auf 5 Stellen nach dem Komma genau haben wollen, setzen wir ε = 10−5 in obige Formel ein. Wir erhalten O(ε) = 4,2 ·10−2. Wenn also x kleiner als dieser Wert ist, liefert uns die Formel (9) sicher eine Genauigkeit von 5 Stellen nach dem Komma. Wir haben mit 4,2 ·10−2 somit einen Grenzwert, der uns angibt, ob die Formel (9) oder der arccos verwendet werden soll, um die gewünschte Genauigkeit zu erreichen.
Damit können wir den arccos in Formel (5) durch obige Näherung ersetzen und erhalten die folgende Formel zur Berechnung der Zeit Δt:
(11) |
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für | ||||||||||||||||||
(12) |
|
für | ||||||||||||||||||
mit |
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wobei' |
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Im folgenden Rechenformular kannst Du nach obigen Formeln Berechnungen anstellen. Mit dem Button Reset werden die Werte zurückgesetzt für ein Pendel der Länge 1 m mit einem Auslenkwinkel φmax = 5°. Als Δs wird ein durchschnittlicher Atomradius von 100 pm verwendet.